Lübecks Schatzkiste öffnet sich langsam
Als ich im vergangenen Herbst ein paar Tage in Lübeck verbrachte, beschäftigte mich eigentlich nur eine einzige Frage: Warum hatte mir bislang niemand von der einzigartigen Schönheit dieser Stadt erzählt? Wie aus einem Guss präsentiert sich die spätmittelalterliche Altstadt, und ihre gut erhaltenen, langgezogenen Kaufmannshäuser beherbergen weit mehr individuelle Boutiquen und Delikatessenläden als die ansonsten überall gängigen Handelsketten. Außerdem machen die köstlichen Tortenkreationen im Stammhaus-Café des Marzipanproduzenten Niederegger den Wiener Mehlspeisen definitiv Konkurrenz!
Ja, wie konnte das sein? Die Straßen waren mit Touristen gut gefüllt, darunter viele Engländer und Skandinavier – demnach ist Lübeck kein Geheimtipp. Im wichtigsten Kunstmuseum der Stadt, dem St. Annen-Museum, steigerte sich meine Verwirrung sogar noch, denn plötzlich war ich ganz allein. Also fast, das Personal war auch dort. Aber sonst quasi niemand. Dabei ist dieser wunderbare Ort in ehemaligen Klostermauern gleichsam Lübecks Schatzkiste. Das Museum enthält eine ungemein bedeutende Sammlung, darunter spätmittelalterliche Holzschnitz-Altäre sowie den detailreichen Greveraden-Altar des flämischen Malers Hans Memling. Achten Sie dort auf den Kleiderschmuck von Maria Magdalena – die heilige Sünderin ist Lübecks Schutzpatronin!
Abends war ich im Theater, man spielte eine weitgehend unbekannte englische Oper von Benjamin Britten. Aber nicht irgendwie, sondern in einer packenden Inszenierung des renommierten Regisseurs Stephen Lawless, mit einem hochmotivierten Orchester und mit wunderbaren Sängern! Das Publikum reagierte begeistert, und doch war der Applaus mau, denn die Auslastung lag an diesem Abend bei geschätzten zehn Prozent. Die Künstler konnten einem wirklich leid tun. Auf dem Rückweg zum Hotel fand ich dafür nur eine einzige Erklärung: Offenbar wissen selbst kulturinteressierte Touristen nichts von diesem hochwertigen Angebot.
Neben den Lübecker Museen und dem Stadttheater gibt es außerdem noch eine Musikhochschule, die regelmäßig klassische Konzerte veranstaltet, sowie eine Kongresshalle mit einem breiten Musikangebot. Das sollten die Lübecker ihren Besuchern vielleicht mal erzählen. Womöglich tue ich der Stadt jetzt aber Unrecht, denn bis zum 6. Februar zeigt das St. Annen-Museum eine Sonderschau, die im internationalen Feuilleton bereits für Aufmerksamkeit gesorgt hat: „Lucas Cranach der Ältere und Hans Kemmer. Meistermaler zwischen Renaissance und Reformation“. Während Lucas Cranach bis heute Weltruf genießt, ist sein Schüler Hans Kemmer völlig unbekannt. Bis jetzt, denn diese Ausstellung soll Kemmer nachhaltig als „Cranach von Lübeck“ etablieren. Einige seiner Bilder wurden in detektivischer Manier bei Privatpersonen aufgespürt und sind erstmals in einer öffentlichen Ausstellung zu sehen. Sein Meisterwerk „Die Liebesgabe“ verbleibt dauerhaft im St. Annen-Museum. Gut möglich, dass man Lübeck-Rückkehrer in gebildeten Kreisen künftig fragen wird: „Hast du den Kemmer gesehen?
Mehr Informationen unter www.st-annen-museum.de, www.theaterluebeck.de