Mit kühnem Schwung wendet sich die 20 Meter hohe Autobahntrasse aus karger Felsenlandschaft zum Hafen. Und gleich hat der Besucher das vor Augen, worauf die Stadt besonders stolz ist: „EuroMéditerranée“, die Neugestaltung eines 480 Hektar großen Megaviertels mit gläsernen Bürotürmen und akribisch restaurierten Fabriken und Speicherhäusern, zeitgemäßes Habitat von Kommerz und Kreativwirtschaft, Antithese zum früheren Dockmilieu à la „French Connection“. Prominente Architekten wurden als Zugpferde engagiert, um Marseille eine glamouröse Skyline zu verpassen respektive historische Mauern – lichtdurchlässige Additive. Zaha Hadid, Jean Nouvel und der Japaner Kengo Kuma sind darunter. Ein Blick noch auf die Cathédral La Mayor, im 19. Jahrhundert der Hagia Sophia nachempfunden, zur Rechten das mittelalterliche Fort Saint-Jean, dann taucht das Taxi in den Tunnel unterm Vieux Port ab und rollt am jenseitigen Ufer gewissermaßen in 2.600 Jahre alter Geschichte mit multikulturellem Zeitgeschehen aus. Man müsste lange nach einer anderen Stadt in Europa suchen, die auf so kleiner Fläche mehr optische und kulturelle Abwechslung offeriert als das Herz von Marseille.
Haute Volée im Hafen
Der Alte Hafen ist Keimzelle der Stadt, die 600 vor Christi Geburt als griechische Kolonie Massalia gegründet wurde. Eine derartig reizvolle Szenerie wäre einem vorm Besuch nicht in den Sinn gekommen. Der Blick scannt tausende Segelmasten, schweift zwischen mächtigen Festungsmauern hinaus aufs Meer zu den Frioul-Inseln und hinauf zur imposanten Kathedrale Notre-Dame-de-la-Garde. Auf ihrem Turm, weithin sichtbar, die „bonne mère“. Elf Meter hoch strahlt die Gottesmutter in goldenem Gewand vom höchsten der vielen Hügel, über die sich Marseille wie ein faltiger Mantel ausbreitet. Auf der einen Seite des Hafens blüht Historie in umfunktionierten Lagerhäusern, Markthallen und ehemaligen Spelunken. Auf der anderen präsentieren sich moderne Apartmentgebäude im Sonnenlicht. Dazwischen der Quai de Belges. Dort machen morgens Fischer ihre Kutter an der Hafenmauer fest und hieven den frischen Fang auf Stände. Ein hübsches Fotomotiv, seit eh und je aber auch Zutatenquelle für die berühmte Bouillabaisse. Wegen umfangreicher Hafenverschönerung quetscht sich der Fischmarkt zurzeit auf ein paar Autolängen. Nach einem Entwurf von Sir Norman Foster werden Promenaden an allen drei Seiten verbreitert, die einst achtspurige Uferstraße auf wenige Meter verschlankt. Bürgermeister Jean-Claude Gaudin erklärt das als Wiederherstellung der „Essenz“ des berühmten Hafens. Vorläufer avisierten Flairs haben sich längst angesiedelt. Zig Terrassenlokale säumen sowohl das Hafenbecken wie auch das einstige Galeerenareal Carré Thiars. Sehen und gesehen werden heißt heutzutage die Devise von tout Marseille. Ein Tischchen in der ersten Reihe, den eisgekühlten Apéro vor der Nase, die schicke Sonnenbrille darauf, elegante Damen im gestenreichen Gespräch, die Herren studieren relaxed die Sportnachrichten.
Mix der Kulturen: Marseilles zahlreiche Gesichter
Ein paar Blocks nur entfernt um den ehemaligen Ostbahnhof Noailles wähnt man sich plötzlich in Souks. Der Marché des Capucins und abzweigende Gassen spiegeln mit nordafrikanischem Ambiente Marseilles Immigrationsgeschichte wider. Das Leben pulsiert um Gemüsestände und zwischen offenen Shops, in denen Hammelhälften baumeln, Säcke mit Kräutern und Gewürzen orientalischen Duft versprühen und Behälter mit eingelegten Oliven und Chilis zum Probieren locken. Frankreichs älteste Stadt war und ist nicht nur Umschlagplatz des Warenverkehrs von und nach Afrika, sie ist gleichzeitig auch Kumulationspunkt unterschiedlichster Kulturen. Fast die Hälfte der Einwohner ist maghrebinischer Abstammung. In manchen Vorstädten Marseilles führte und führt der Völkermix nicht immer zu reibungslosem Zusammenleben. Als Besucher indes tangiert man diese Orte nicht. Faszinierend ist die Begegnung mit Menschen aller Hautschattierungen beim Bummel über die Prachtstraße Canebière. Einst reihten sich hier in der Nähe von Werften Seilerwerkstätten. Nach dem Abriss des Arsenals vor 270 Jahren entstanden prunkvolle Palais wie das der Börse.
Kontrastprogramm am Cours Julien. Der Straßenzug ist gewissermaßen südfranzösische Antwort auf Hamburgs Schanze. Im Szeneviertel der „Bobos“ (Bohemièn Bourgoisie) mit der Place Jean Jouré im Mittelpunkt formieren sich Musiklokale, Avantgarde-Modelabels und Kneipen zum bunten Erlebniscocktail, gespickt mit jeder Menge Street Art. Wieder abwärts zum Vieux Port über die Rue Grignan kommt bei Fashion-Aficionados Freude auf. Hinter barocken Fassaden verführen Boutiquen internationaler und lokaler Labels, die Kreditkarte zu zücken. Was man nicht unbedingt weiß, Marseille hat sich seit den 90er Jahren als Kreativpool in Sachen Mode entpuppt, folgt dabei einem eigenwilligen mediterranen Stil mit kühnen Elementen und erfrischenden Ideen.
Der Quai de Belges mündet in die Rue de la République mit fein restaurierter Architektur des Zweiten Kaiserreichs. Edel die Haussmann-Fassaden wie auch die Läden dahinter. Der eindrucksvolle Boulevard begrenzt den Buckel von Le Panier. Bis vor einigen Jahren noch galt Le Panier als verrufenes Arme-Leute-Quartier. Dann streifte ihm die Stadt eine frische Patina über. Der Charme blieb erhalten. Künstler, Feinkostläden und lauschige Lokale haben sich inzwischen an den romantischen Plätzchen, in krummen Gassen und engen Treppenschluchten etabliert. Sightseeing-Höhepunkt ist die Vielle Charité. Das ehemalige Armenhaus mit seinen reizvollen Säulengalerien beherbergt jetzt großartige Sammlungen afrikanischer, ozeanischer und indianischer Kunst.
Fasziniernde Schönheit im Süden von Marseille
Zwischendurch mal Ferienstimmung à la Côte d'Azur? Auch das hat Marseille zu bieten. Vom südlichen Ausgang des Vieux Port reihen sich anfangs romantische Felsbuchten wie die Anse des Auffes, dann folgt entlang der Corniche Kennedy Strand an Strand. Jenseits der Straße erheben sich Villen des Großbürgertums aus gepflegten Palmengärten. Insgesamt säumen 57 Küstenkilometer das Ballungsgebiet Marseille, mit 14 Yachthäfen ist es sogar das zweitgrößte Yachting-Zentrum Europas. Und am südöstlichen Rand des Stadtgebiets bricht fast unvermittelt wilde Schönheit los. Bis zu 400 Meter hoch recken sich silbergraue Kalkklippen in den sonnenverwöhnten Himmel. Kein Haus, aber viel Strauch umrahmt die steilwandigen Calanques am Fuße der Montagne Marseilleveyre. Die tiefen Buchten mit kristallklarem Meer schneiden sich Dolchen ähnlich in die bleiche Steinszenerie. Im Hinterland dräut Einsamkeit zwischen Kräuterbüschen und Kermeseichen. Adler kreisen. Eidechsen huschen übers Geröll. Zurück zum Terrassencafé? Der Vieux Port liegt nur 25 Autominuten oder eine Stunde mit dem Ausflugsboot entfernt.
www.marseille-tourisme.com
Foto: (c) Atout France / F. Charel
Lage
Frankreich
Essen in Marseille - Fisch einmal anders
Die Küstenstadt Marseille hat eine Fülle an frischem Fisch und andere Köstlichkeiten, wobei die Kulinarik der Stadt stark von der Umgebung beeinflusst wird. Vor allem die köstliche Boullabaise - eine Fischsuppe - lässt sich in fast allen Restaurants finden und ist jedenfalls eine Kostprobe wert.
Shopping in Marseille - Ein Einkaufsparadies der Sonderklasse
Auf dem Cours Julien und rund um die Place Jean Jaurés findet man kleine Boutiquen mit lokalen Labels sowie traditionelle Manufakturen, z. B. in der Savonnerie Marseillaise (34, Cours Julien) herrlich duftende Naturseifen. Für Asymmetrisches in weichen Stoffen steht Helène Racine mit ihrem Shop Casablanca (63, Cours Julien), Nobelboutiquen reihen sich an der Rue de Grignan, allen voran der Concept Store Marianne Cat im Stadtpalais von 1790 Hôtel de Paul (No. 53). Sportlich-kreative Fashion aus wunderbaren Stoffen um die Ecke bei Sugar (16, Rue Lulli). Wer in Küchenutensilien vernarrt ist, seien es traditionelle oder moderne, findet im Maison Empereur sein Paradies (4, Rue des Recolletes).